Sehen

die gute, alte Zeit

Luiz Goldberg

Eine alte Schallplatte knistert,
und plötzlich rieche ich wieder
den Staub auf dem Röhrenfernseher meiner Großeltern.

Schwarz-Weiß-Bilder flimmern,
die Tagesschau mit Karl-Heinz Köpcke,
und irgendwo im Hintergrund
läuft Schlager aus dem Kofferradio.

Es ist 1977 oder 78,
ich bin vielleicht dreizehn,
und die Welt ist noch überschaubar groß.

In der Küche steht ein Glas mit Brausepulver,
Ahoj-Brause,
das man mit Wasser aufgießt
und dann gespannt wartet,
bis die Bläschen kommen.

Daneben die erste Flasche „Afri-Cola“,
die wir Jungen heimlich probieren,
weil sie angeblich „mehr drin“ hat als normale Limo –
ein Gerücht, das uns mächtig aufregt.

Wir trauen uns kaum, das Wort „Sex“ auszusprechen,
aber wir wissen alle,
dass es damit irgendwas zu tun haben muss.

Abends schleichen wir uns ins Wohnzimmer,
wenn die Eltern denken, wir schlafen schon.

Der Fernseher hat nur drei Programme,
und wenn „Dalli Dalli“ vorbei ist,
kommt manchmal ein Film mit Uschi Glas oder Roy Black.

Dann sitzen wir da, drei Jungs auf dem Sofa,
die Beine unter der Decke,
und warten auf die Sekunde,
in der ein Busen zu sehen sein könnte.

Meistens ist es nur ein Schatten,
aber unser Herz klopft,
als stünden wir vor der Tür zur verbotenen Stadt.

Die erste Zigarette rauchen wir hinter der Garage,
Lord Extra ohne Filter,
weil die großen Jungs das auch machen.

Wir husten wie die Dampfloks,
tun aber so, als wäre das das Normalste der Welt.

Und irgendwo in der Tasche
steckt ein zerknittertes Bravo-Starschnitt-Foto
von Katja Ebstein oder Marianne Rosenberg –
die ersten heimlichen Objekte der Begierde,
die wir abends unter der Bettdecke betrachten
und von denen wir träumen,
sie würden uns eines Tages küssen.

Es war die Zeit,
als „Petting“ noch ein fremdes Wort war,
das man sich im Flüsterton erzählte,
als wäre es etwas Verbotenes aus Amerika.

Die Zeit,
als ein Zungenkuss das größte Abenteuer war,
das man sich vorstellen konnte,
und man danach tagelang mit weichen Knien durch die Schule lief.

Die Platte dreht sich weiter,
das Knistern wird leiser,
und ich sitze hier, fast fünfzig Jahre später,
und spüre noch immer dieses Kribbeln im Bauch.

Damals war alles neu, alles aufregend, alles möglich.
Selbst die Angst, erwischt zu werden, hatte etwas Süßes.

Heute weiß ich:
Das war der eigentliche Kick –
nicht das, was vielleicht irgendwann kam,
sondern dieses Warten, dieses Sehnen,
dieses erste, unsichere Tasten
nach dem, was man Liebe nannte,
bevor man überhaupt wusste,
was das Wort wirklich bedeutet.

Und manchmal,
wenn ich heute eine alte Single in die Hand nehme,
denke ich:

Vielleicht war das die geilste Zeit überhaupt –
als noch nichts passiert war,
aber alles kurz davor stand.

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