Sehen

Dunkelheit

Ferdinand Freiherr von der Ferne

(Aufzeichnungen eines Unbekannten, geschrieben am 12.9.2001)

Es trat eine Zäsur ein.
Ein Einschnitt ungeheueren Ausmaßes.
Verändert das Leben.
Im Kleinen wie im Großen.

Was ist wesentlich, dann –,
was unwesentlich?
Das Individuum spürt,
spürt das Leben.
Auf andere Weise.
Zudem wird die Werte-Aufteilung
anders eingeordnet.
Die ursprünglichsten Instinkte
erfahren eine aktuelle Reihenfolge.

Dann steht vielleicht nicht mehr
der Urinstinkt Sexualität
an erster Stelle.
Es tritt dann womöglich ein anderer
an diese Stelle.
Das Leben selbst.
Nicht Arterhaltung,
sondern Erhaltung des Lebens,
des einzelnen Individuums.
Oder der Urinstinkt der Todessehnsucht
verschafft sich Geltung,
mehr als alle anderen.
Möglicherweise.

Der Einschnitt aber,
war solcher Natur,
daß er eine alles möglich werdende Ungewißheit darstellte,
und ein unheimliches,
deutlich spürbares Unbehagen auslöste.

Jeder ging damit auf seine Weise um.
So wie von jedem etwas anderes ausgeht.
Jeder sendet von sich
entweder eher positive
oder eher negative Stimmungen,
Strahlen,
Vibrationen –
Auren aus.
Neutren sind eher selten.

Es gibt Auren,
die in großen Kollektiven spürbar sind –,
solche, die in Menschenmassen auftauchen,
wie etwa in Sportstadien
oder Kundgebungsplätzen,
Auren,
die sich als massenhysterische,
massenbegeisternde Stimmungen
erkennbar zeigen;

oder solche,
die einfach durch eine bestimmte Ursache
in allen Menschen hineingeschlüpft sind,
und subtil und lautlos,
ja in unausgesprochener Weise,
aber für alle spürbar,
für alle in realer Gewißheit,
zutage treten.

Die Menschen rücken einander näher.
Die, die sich ohnehin nahestehen,
erfahren eine neue Nähe.
Anderen bleibt etwas anderes.
Vielleicht Sehnsucht.
Oder ein Verlangen nach Nähe.

Was bedeutet Leben?
Jedem sein Standpunkt.
Jedem seine Sicht der Dinge des Lebens.
Sich der Macht der Resignation,
des Fatalismus
des angstbehafteten Pessimismus
zu entziehen –,
weg vom großen Unbehagen zur Paranoia.

Oder hin zum Licht,
es zu suchen –,
im Glauben und der Hoffnung
an das Gute,
an die Liebe.

Doch dem Menschen sind Grenzen gesetzt.
In den Himmel kann niemand fliegen,
im Wasser läßt es sich nicht leben,
und der Erde entkommt man nicht.
Durchs Feuer?
Reinigung?
Eine Reinigung täte not?

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