Sehen
Empörkömmlinge
Da hocken sie,
die selbsternannten Wächter der Moral,
in ihren digitalen Schützengräben,
und schieben die Unterlippe vor
wie ein Kind, das kein Eis kriegt.
Jeder, der ihre Fahne der Gerechtigkeit
nicht schwenkt,
ist ein Schurke,
ein Ignorant
oder – schlimmer noch –
Teil des großen Problems.
Die Welt, so lamentieren sie,
wird von falschen Meinungen
und rückständigen Dummköpfen
zugrunde gerichtet.
Und wir, die tumben Trottel da draußen,
kapieren’s einfach nicht.
Man könnte fast Mitleid haben.
Da sitzen sie,
die Kreuzritter der Empörung,
mit ihren Smartphones
und ihrem Koffein,
und erklären uns,
dass jedes Wort,
jeder Witz,
jede Geste
ein Angriff auf die Menschlichkeit ist.
Der Kollege, der einen dummen Spruch macht?
Ein Feind der Tugend.
Die Oma, die beim Bäcker
von „früher“ schwärmt?
Eine Bedrohung für den Fortschritt.
Und der Typ, der einfach nur
sein Bier trinkt
und die Tagesschau guckt?
Ein rückgratloser Mitläufer,
der die Welt ins Chaos stürzt.
Was treiben diese selbsternannten Gerechten,
wenn sie nicht gerade die Menschheit retten?
Sie scrollen durch Timelines,
wo jeder zweite Post
mit „Das ist inakzeptabel!“ endet,
und teilen Artikel,
in denen ein Influencer
mit Vokuhila erklärt,
dass die Welt nur gerettet wird,
wenn alle ihre Pronomen
auf die Stirn tätowieren.
Die Wahrheit, so behaupten sie,
liegt immer einen Hashtag entfernt –
aber wehe, du benutzt den falschen!
Dann bist du entweder ein Ketzer
oder zu faul,
um die Moral-Olympiade mitzuspielen.
Und wir, die angeblich Gleichgültigen?
Wir schütteln die Köpfe,
gehen zur Arbeit,
füttern die Katze
und fragen uns,
warum die Miete schon wieder steigt.
Wir haben keine Zeit für große Dramen,
weil wir mit dem Alltag jonglieren.
Aber genau das macht uns
in ihren Augen schuldig.
Wer nicht mitmacht,
ist gegen sie.
Und wer gegen sie ist,
verdient’s nicht besser.
„Wenn du nicht mit uns
für die heilige Sache brüllst“,
zetern sie,
„dann verdienst du die Kälte der Ignoranz!“
Die Ironie?
Während sie die Welt verbessern wollen,
kaufen sie ihre fair gehandelten Sneaker
aus dem Online-Shop
und posten ihre Empörung
auf Plattformen,
die – oh Schande –
von denselben Konzernen betrieben werden,
die sie anprangern.
Aber so ist das mit der Revolution:
Hauptsache laut,
hauptsache zornig,
und wenn’s schiefgeht,
sind immer die anderen schuld.
Vielleicht sollten sie mal ’nen Gang runterschalten,
’nen Tee trinken
und sich fragen,
ob die Welt wirklich so böse ist –
oder ob sie sich nur
in ihrem eigenen Kreuzzug verrannt haben.