Sehen
Erkenntnisse über das eigene ICH
Eigentlich bin ich der perfekte Schwiegersohn,
der Typ, den Mutti sofort adoptieren würde:
zuvorkommend, gebildet,
mit festem Job
und einem Lächeln, das selbst die kälteste Schwiegermutter schmilzt.
Ich bring Blumen mit,
höre mir stundenlang an, wie toll ihre Tochter doch ist,
und nicke verständnisvoll,
wenn sie von der schwierigen Jugend erzählt.
Eigentlich.
Eigentlich bin ich ein egoistisches Arschloch,
das nur ans Vögeln denkt.
Kaum ist die Tür zu,
will ich sie flachlegen,
hart, schnell, ohne viel Gerede.
Danach soll sie verschwinden,
am besten lautlos,
ohne Kuschelphase,
ohne „Und wie war dein Tag?“.
Ich will mein Bett zurück,
meine Ruhe,
meinen Fernseher.
Gespräche?
Nur, wenn sie mit Stöhnen enden.
Eigentlich will ich die große Liebe,
die Frau, die mich versteht,
ohne dass ich ein Wort sagen muss.
Die mir Frühstück ans Bett bringt,
meine Socken liebt
und mich anhimmelt,
als wäre ich der letzte Mann auf Erden.
Ich würde ihr die Sterne vom Himmel holen,
wenn sie nur endlich den Mund hält
und mich in Frieden lässt.
Eigentlich will ich bewundert werden.
Von allen.
Dass man mir sagt:
„Du bist ein Genie, ein Gott unter den Männern!“
Dass Frauen sich um mich prügeln,
Männer neidisch werden
und die Welt erkennt,
wie einzigartig ich bin.
Ich will auf Sockeln stehen,
während man mir Denkmäler baut,
am besten nackt,
damit alle sehen,
was für ein Prachtstück ich bin.
Eigentlich hasse ich mich.
Morgens im Spiegel sehe ich nur einen Versager
mit beginnender Glatze,
der zu viel trinkt,
zu wenig verdient
und nie die Eier hatte,
wirklich was aus sich zu machen.
Ich bin ein Lügner, ein Feigling,
ein Typ, der sich hinter Ironie versteckt,
weil er Angst hat,
dass ohne die Maske
nur noch ein kleines, dummes Würstchen übrig bleibt.
Eigentlich will ich einfach nur mal einen Tag
ohne diesen ganzen Scheiß.
Ohne Erwartungen, ohne Spielchen,
ohne diese ewige Zerrissenheit
zwischen dem, was ich sein sollte,
und dem, was ich bin.
Einfach mal ficken, lachen, schlafen,
ohne danach Reue,
ohne morgens Gewissensbisse,
ohne dieses verdammte „Eigentlich“.
Aber eigentlich weiß ich:
Das wird nie passieren.
Weil ich immer beides will.
Den Heiligenschein und den dreckigen Fick.
Die große Liebe und die schnelle Nummer.
Den Applaus und die Einsamkeit.
Ich bin ein wandelnder Widerspruch
mit Dauererektion und schlechtem Gewissen.
Eigentlich bin ich genau wie du.
Und eigentlich ist das das Traurige daran.