Sehen
Es wird kommen eine Zeit
Es wird kommen eine Zeit,
und lass es hundert Jahren sein,
die mir den schmerzlichen Augenblick des Jetzt bezahlt.
Doch noch: die Stadt ein Grau,
schmutzig, schwer, wie Aktenstaub,
wie Schritte, die auf Pflaster hallen.
Im Amt, ein Wartezimmer, kalt,
Linoleum zerfurcht, Geruch nach Schweiß
und Formularen, längst vergilbt.
Mein Manuskript, Gedichte,
Zeilen, nachts aus mir gerissen,
liegt in Händen, stolz und fremd.
Der Beamte, Augen wie ein Stempel,
falsch gedruckt, mustert mich,
als wär’ ich Dreck am Schuh.
„Name?“, bellt er, ohne Blick.
„Meiner“, sag ich, Stimme scharf.
„Wer sonst?“ Sein Stift kratzt,
als wollt’ er mich zerkratzen.
„Beruf?“
„Dichter.“
Ein Lachen, spitz, ein Nadelstich.
„Dichter? Na, das bringt ja Brot.“
Er wirft mein Formular auf einen Stapel,
„Nächster!“, ruft er, ich bin Luft.
Die Straße draußen, laut und blind,
Menschen hasten, Schatten ohne Ziel.
Das Manuskript, es brennt im Arm.
Der Verleger, früh, im Büro,
Regale voll mit toten Worten,
sagte: „Lyrik? Die kauft keiner.
So sind die Zeiten.“
Sein Lächeln mild, ein Dolch, verpackt.
Im Café, ein Tisch, ein Tee,
schmeckt nach nichts, nur bitter.
Durchs Fenster: Tauben, flatternd, frei,
ein Kind, das lacht, ein Wind, der schneidet.
Ich schlage auf: „In hundert Jahren...“
Die Zeilen leben, trotz der Welt.
In hundert Jahren raunt man meinen Namen,
Bibliotheken tragen ihn,
meine Spießer-Zeitgenossen,
ahnungslos, verdammt zur Scham.
Die Nachwelt lächelt, mild, doch ich,
ich spuck’ auf ihre milden Blicke.
Jetzt: das Amt, der Spott, die Leere.
Doch nachts, wenn Stille mich umarmt,
schreib’ ich Zeilen, Funken, meine.
Nicht für Ämter, nicht für Geld,
nicht für hundert Jahre Ruhm.
Für mich. Fürs Feuer in der Nacht.
Die Stadt wird dunkel, Lichter kalt.
Ich gehe, Manuskript im Griff.
Trotz allem schreib’ ich weiter.
Die Welt mag spotten.
Ich bin Dichter.
Und die Zeilen bleiben.