Sehen

Fragen nach der nicht vorhandenen Leidenschaft

Gernot Schwarm

was bedeutet es dir,
wenn wir uns sehen,
unsere Blicke sich kreuzen
wie zwei Fremde in einer überfüllten Bahn,
die sich zufällig berühren
und doch nichts riskieren?

Deine Augen wandern über mich hinweg,
als wäre ich ein alter Bekannter
aus einer vergangenen Party,
den man grüßt, aber nicht einlädt.

Kein Funke, kein Verlangen,
nur diese höfliche Distanz,
die sich anfühlt wie ein Gespräch über das Wetter,
während innerlich alles brodelt.

was bedeutet es dir,
wenn wir miteinander sprechen,
Worte austauschen
wie Smalltalk in der Warteschlange beim Bäcker?

Du erzählst von deinem Tag,
von der Arbeit, vom Wochenende,
und ich nicke, lache an den richtigen Stellen,
aber spürst du nicht,
wie leer das klingt?

Kein tiefer Griff in die Seele,
kein Geständnis, das die Luft zum Vibrieren bringt.

Es ist nett, ja,
aber nett ist der Feind der Leidenschaft,
der Killer jeder echten Verbindung.

Du redest, ich höre zu,
und doch fehlt der Biss,
der Moment, in dem Worte zu Berührungen werden,
zu einem Kuss, der alles verändert.

was bedeutet es dir,
wenn wir zusammen die Straßen entlanggehen,
Seite an Seite,
wie zwei Kollegen auf dem Weg zur Kantine?

Die Stadt pulsiert um uns herum,
Lichter, Geräusche,
Menschen, die leben, lieben, streiten.

Wir schlendern dahin,
Arme baumeln lose,
kein Händedruck,
kein versehentliches Streifen,
das ein Feuer entzünden könnte.

Du schaust auf dein Handy,
ich auf die Schaufenster,
und die Distanz zwischen uns wächst
mit jedem Schritt.

Es fühlt sich an wie ein Spaziergang mit einem Schatten,
der nie ganz greifbar wird.

was hält dich in meiner Nähe,
wenn nicht das Verlangen,
das uns beide verschlingen könnte?

Ist es Gewohnheit,
diese bequeme Routine,
die uns zusammenhält
wie ein altes Paar Schuhe,
das man nicht wegwirft, weil es passt?

Oder Angst vor dem Alleinsein,
vor der Leere, die entsteht,
wenn der Kontakt abbricht?

Du bleibst, weil es einfach ist,
weil ich da bin, verfügbar, unkompliziert.

Aber wo ist der Hunger,
der uns nachts wach hält,
der uns antreibt,
Regeln zu brechen, Grenzen zu überschreiten?

was lässt dich meine Nummer wählen,
mitten in der Nacht oder am hellen Tag,
wenn du eigentlich weißt, dass nichts passiert?

Ein Impuls?
Ein Moment der Schwäche?

Oder nur die Gewissheit,
dass ich antworte, immer antworte,
wie ein treuer Hund, der wedelt,
aber nie beißt.

Du tippst die Zahlen, drückst auf Anrufen,
und ich hebe ab, erwartungsvoll, hoffnungsvoll,
nur um wieder in dasselbe Muster zu fallen.

du meldest dich immer wieder bei mir,
wie ein Bumerang, der zurückkommt,
ohne je richtig weggeflogen zu sein.

Mal eine Nachricht, mal ein Anruf,
mal ein Treffen, das nirgendwo hinführt.

Es ist ein Kreislauf,
ein Tanz auf der Stelle,
der uns beide festhält, ohne voranzukommen.

Ich warte auf den Funken,
auf den Moment, in dem alles explodiert,
in dem du mich packst, mich küsst, mich willst,
wirklich willst.

Aber stattdessen diese sanfte Gleichgültigkeit,
diese Freundlichkeit, die tötet.

aber mir fehlt der leidenschaftliche impuls,
dieser rohe, ungezügelte Drang,
der uns aus der Bahn wirft,
der uns vergessen lässt,
wer wir sind, wo wir sind.

Ich sehne mich nach dem Chaos,
nach dem Sturm, der alles umkrempelt.

Nach dem Blick, der sagt:
Ich will dich jetzt, hier, sofort.

Nach der Berührung, die brennt,
die Narben hinterlässt.

Stattdessen diese lauwarme Nähe,
die mich frieren lässt.

Was hält uns zusammen,
wenn nicht das Feuer?

Ist es genug, nur zu existieren,
nebenemandem, ohne zu brennen?

Ich frage mich,
ob du das auch spürst,
diese Leere, diese Sehnsucht nach mehr.

Oder bist du zufrieden
mit diesem Halbleben,
dieser Schattenliebe?

Sag es mir, oder lass es,
aber hör auf, mich hinzuhalten.

Denn Leidenschaft ist alles oder nichts.

Und bei uns fehlt sie schmerzlich.

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