Sehen
in der Früh
Es dämmert über der Stadt,
ein fahles Grau schiebt sich zwischen die Hochhäuser,
als wollte es die Nacht noch ein letztes Mal umarmen.
Kein Hahnenschrei durchbricht die Stille,
nur das ferne Röhren von Motoren
und das Klirren leerer Flaschen auf dem Asphalt.
Die Metropole atmet schwer,
ein Koloss aus Beton und Neon,
der nie wirklich schläft.
In den engen Gassen der Altstadt,
wo die Laternen noch flackern,
torkeln die letzten Nachtschwärmer heimwärts.
Skandinavische Touristen,
rotwangig vom Bier und laut vom Wodka,
gröhlen ein Lied über Wikinger und Freiheit.
Ihre Stimmen hallen von den Wänden wider,
ein Chor aus Fremde,
der die Anwohner in ihren Betten fluchen lässt.
Ein türkischer Taxifahrer lehnt an seinem gelben Wagen,
die Stirn in Falten gelegt.
Er hat die ganze Nacht gefahren,
von Flughafen zu Hotel,
von Bar zu Bordell.
Nun spuckt er auf den Boden
und murmelt Verwünschungen in seiner Muttersprache.
„Verdammte Touristen“, knurrt er,
zündet sich eine Zigarette an.
Der Rauch kräuselt sich in die kühle Morgenluft,
mischt sich mit dem Geruch von Abgasen
und altem Frittierfett aus der Imbissbude gegenüber.
Seine Frau wartet zu Hause mit warmem Tee und frischem Brot,
aber er muss noch eine Schicht schieben,
um die Miete zu zahlen.
Die Stadt frisst ihn auf,
Stück für Stück.
Neben ihm stöckelt eine müde Hure die Straße entlang.
Ihre High Heels klackern rhythmisch,
ein letztes Echo der Nacht.
Das Make-up ist verschmiert,
die Strümpfe zerrissen,
doch sie hält den Kopf hoch.
Sie heißt Ayla,
kommt aus dem Osten,
hat Träume von einem besseren Leben mitgebracht,
die hier zerplatzt sind wie Seifenblasen.
Die Skandinavier haben sie angestarrt,
einer hat sie sogar angegrapscht,
bevor der Taxifahrer dazwischenging.
„Lass sie in Ruhe, du Säufer“,
hatte er gebrüllt,
und sie hatte genickt,
dankbar, aber stolz.
Nun schleppt sie sich nach Hause,
in eine winzige Wohnung über dem Dönerladen,
wo ihre Katze wartet
und der Kühlschrank leer ist.