Sehen

in Handschellen aus Samt

Charles Haiku

Sie ist meine persönliche Bewährungshelferin,
nur dass sie statt Aktenordner ein Dekolleté trägt
und statt Paragraphen ihre Laune.

Jeden Morgen checkt sie, ob ich auch brav war:
Habe ich gestern Abend noch schnell die Nachbarin angelächelt?
Drei Tage Hausarrest ohne Küssen.

Habe ich vergessen, ihr zu schreiben, dass sie die Schönste ist,
obwohl sie das seit Jahren täglich hört?
Sofortiger Entzug von Zärtlichkeit,
plus stundenlanges Verhör,
warum ich sie eigentlich nicht genug liebe.

Ich sitze auf der Anklagebank meines eigenen Sofas,
sie in der Richterrobe aus Seidennegligé,
und darf erklären,
warum mein Blick zwei Sekunden zu lange
an der Bedienung im Café hing.

Beweismittel: ein Foto, das sie heimlich gemacht hat.
Urteil: schuldig im Sinne der Anklage.
Strafe: drei Nächte auf der Couch,
plus tägliche Liebesbekundung per SMS,
mindestens 280 Zeichen, Emojis zählen nicht.

Früher dachte ich, Liebe sei ein Tandem.
Heute weiß ich: Es ist ein Einzelkäfig mit Besuchstag.

Sie hat den Schlüssel,
ich habe die Hoffnung,
dass sie ihn irgendwann verliert –
am besten in ihrem eigenen Ausschnitt,
da sucht sie nämlich nie.

Sie verlangt totale Unterwerfung,
aber wehe ich knie wirklich,
dann ist es ihr plötzlich zu devot.
„Sei doch mal ein Mann!“ –
ja, klar, einer, der bitte schön genau die richtige Dosis Mann ist,
nicht zu viel, nicht zu wenig,
so wie ihr Kaffee: zwei Zucker, ein Schuss Milch,
und wenn er nicht exakt 72 Grad hat,
kippt sie ihn mir über den Kopf.

Ich habe schon überlegt, ob ich einfach abhau.

Aber dann ruft sie an,
flüstert „Komm her, ich vermiss dich“
mit dieser Stimme, die klingt,
als würde sie gerade mein Rückgrat lutschen,
und schwups bin ich wieder da,
auf Knien,
in Handschellen aus Samt
und bettle um Gnade.

Dabei will sie gar keine Gnade.
Sie will mich klein.
Klein und süchtig.
Klein, süchtig und dankbar,
dass sie mich überhaupt noch erträgt.

Manchmal liege ich nachts wach
und stelle mir vor,
wie es wäre, mein Ich einfach abzugeben.

Wie eine Jacke an der Garderobe:
„Hier, nimm, pass drauf auf, ich hol’s mir irgendwann wieder.“

Aber ich weiß, sie würde es verlegen,
und ich stünde dann nackt da –
ohne Ego, ohne Stolz,
nur noch mit diesem dümmlichen Grinsen,
das sagt:
Ja, Schatz, du hast recht,
ich bin nichts ohne dich.

Deshalb frage ich mich ernsthaft:
Lohnt sich ein bisschen Liebe wirklich,
wenn der Preis mein komplettes Rückgrat ist?

Andererseits –
ohne sie hätte ich ja wieder eins.

Und wer will das schon.

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