Sehen
Lebensrückblick einer Hure
Sie hieß Elfriede,
doch die meisten nannten sie nur „die Dicke vom Bahnhof“.
Sechsundachtzig wurde sie.
Fünfzig davon stand sie auf dem Strich,
Pflaster, Rotlichtfenster
oder einfach im Türrahmen irgendeiner Absteige.
Kein Jammern, kein „hätte ich doch“.
Sie sagte immer:
„Ich hab’s freiwillig gemacht, und ich hab’s gut gemacht.“
Mit sechzehn fing sie an,
weil der Vater besoffen,
die Mutter tot,
der Bruder im Knast.
Der erste Freier war ein dicker Vertreter aus Osnabrück,
zahlte zwanzig Mark
und roch nach Pfeifentabak.
Sie fand’s nicht schlimm.
Besser als Kartoffeln schälen bei irgendwelchen Bauern.
Später kamen die Stammkunden:
der Polizist, der samstags immer in Uniform kam,
der Lehrer, der weinte, wenn er kam,
der Pfarrer, der vorher betete und hinterher nochmal.
Alle wollten dasselbe,
und alle zahlten.
Sie lernte schnell:
ein Lächeln kostet nichts und bringt Trinkgeld.
Ein „Du bist aber ein starker Hengst“ bringt zwanzig extra.
Und wenn einer grob wurde,
hatte sie immer das Knie bereit.
Sie brach keinem die Nase,
aber ein paar Eier wurden blau.
Respekt musste sein.
Mit dreißig hatte sie schon ein kleines Haus am Stadtrand,
bar bezahlt.
Kein Zuhälter, keine Schulden.
Sie war ihre eigene Chefin.
Die Kolleginnen kamen zum Ratschen,
borgten sich Strümpfe,
tauschten Adressen von Freiern,
die gut zahlten und nicht stanken.
Sie tranken zusammen Korn
und lachten über die Männer,
die dachten, sie hätten gerade die Liebe erfunden.
Die Jahre gingen.
Die Haut wurde schlaffer,
die Brüste hingen,
aber die Augen blieben frech.
Mit sechzig war sie immer noch gefragt –
bei denen, die auf „reif“ standen.
Manche wollten nur reden.
Die zahlten sogar besser.
Einer, ein Professor,
brachte ihr Gedichte mit und las sie vor,
während sie ihm einen blies.
Sie verstand kein Wort,
nickte aber immer an den richtigen Stellen.
Mit achtzig kam sie ins Heim.
Die Beine wollten nicht mehr.
Aber der Kopf war klar.
Die Pflegerinnen kicherten,
wenn sie erzählte,
wie sie mal einen Bischof mit dem Krummstab gespielt hatte
(„der wollte, dass ich ihn segne, während er kommt –
ich hab’s gemacht, kostete Aufpreis“).
Am letzten Tag lag sie da,
mager wie ein Streichholz,
die Haut durchsichtig.
Der junge Altenpfleger –
vielleicht fünfundzwanzig, dunkle Locken, enge Hose –
wechselte ihre Windel.
Sie sah die Beule.
Deutlich.
Kein Zweifel.
Sie grinste,
so gut es mit dem zahnlosen Mund ging,
hob mühsam die Hand
und zeigte mit zitterndem Finger drauf.
„Junge“, krächzte sie,
„wenn ich dreißig Jahre jünger wär…
den hätt’ ich dir leer gemacht,
dass dir die Socken runterfallen.“
Dann lachte sie röchelnd,
schloss die Augen
und war weg.
Fünfzig Jahre auf dem Strich.
Kein Bedauern.
Nur ein letzter, fachmännischer Blick
auf eine gute Ware.
Und irgendwo da oben,
da bin ich mir sicher,
steht sie jetzt am Himmelstor,
mustert den heiligen Petrus von oben bis unten
und sagt:
„Na, Opa, haste was in der Robe,
wovon eine alte Hure noch träumen kann?“
Amen.