Sehen

Loblied des Hinterhofes

Charles Haiku

Stellen Sie sich vor,
Sie wohnen in so einem klassischen Berliner Mietshaus,
wo die Wände dünn wie Pappe sind
und die Nachbarn näher als die eigene Familie.
Tagsüber dröhnt der Verkehr von der Straße herüber,
und abends mischt sich das alles
mit dem Gebrüll aus den Kneipen unten.
Aber der wahre Star ist der Hinterhof –
dieser enge, düstere Fleck zwischen den Fassaden,
wo das Leben seine schmutzigen Geheimnisse auspackt.
Da stehen die Fahrräder angekettet,
als hätten sie Angst vor Dieben,
und die Katzen streunen herum,
auf der Suche nach Resten aus dem Müll.

In den Fluren riecht es nach dem,
was die Leute kochen –
mal fade Suppe von der alten Dame im Erdgeschoss,
mal scharfes Curry von den Neuankömmlingen aus dem Osten.
Und darunter immer dieser Hauch von Urin,
der sich in den Ecken festsetzt,
als wäre er Teil der Miete.
Die Hausmeisterin schimpft,
aber ändert nichts;
sie hat selbst genug mit ihrem Alltag zu tun.
Und dann die Gestalten,
die in den Tonnen wühlen:
Obdachlose,
die nach Flaschen greifen
oder nach etwas Essbarem,
das noch nicht ganz verdorben ist.
Sie nennen es „abstauben“,
als wäre es ein Spiel,
aber es ist der tägliche Kampf ums Überleben
in einer Stadt,
die für manche glänzt
und für andere nur Schatten wirft.

Nachts wird’s interessant.
Wenn der Mond hochsteht
und die Straßenlaternen flackern,
hört man die Geräusche,
die tagsüber untergehen.
Da oben im zweiten Stock,
wo die Studenten hausen,
die sich mit Jobs und Vorlesungen durchschlagen,
da wird’s laut.
Nehmen wir die junge Frau aus dem Theaterfach –
sie probt nicht nur Rollen,
nein, sie lebt sie aus.
Ihr Stöhnen dringt durchs offene Fenster,
ein Mix aus Ekstase und Drama,
der den ganzen Hof erfüllt.
Die Nachbarn tun so,
als hörten sie nichts,
drehen die Musik lauter
oder flüstern ihrem Partner zu:
„Schon wieder?“
Aber insgeheim lauschen sie,
fasziniert von diesem Stück Realität,
das freier ist als jede Bühne.

Und wissen Sie, was das Komische ist?
In dieser Enge,
mit all dem Gestank und dem Gestöhne,
fühlt sich die Stadt lebendig an.
Die Penner finden ihren Schatz in der Tonne,
die Studentin ihren Höhepunkt,
und wir anderen?
Wir lernen,
dass das Leben nicht poliert ist,
sondern rau und ungeschminkt.
Es ist wie ein ungeschriebenes Theaterstück:
Jeder spielt mit,
ob er will oder nicht.
Die Reichen in ihren Lofts oben drüber
hören vielleicht nichts,
aber unten im Hof pulsiert das Echte –
die Armut,
die Lust,
die kleinen Siege.

Vielleicht sollten wir alle
mal runter in den Hof gehen,
statt uns in unseren Wohnungen zu verschanzen.
Reden mit dem Typen,
der in der Tonne wühlt,
oder applaudieren der Stöhnerin aus dem Fenster.
Berlin wäre dann nicht nur eine Stadt,
sondern eine Gemeinschaft von Chaoten.
Aber hey,
wer bin ich, dass ich predige?
Am Ende des Tages
schließe ich mein Fenster
und drehe mich um.

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