Sehen
mein Haus in meinen Träumen
Die Straße lag still
unter dem grauen Himmel,
der Regen trommelte leise auf den Asphalt,
als ich vor dem Haus stand,
wo meine Kindheit Wurzeln geschlagen hatte.
Die Hausnummer hing unverändert an der Wand,
doch das alte Gebäude
mit seinen knarrenden Dielen,
den abblätternden Tapeten
und den Fensterläden,
die im Wind klapperten,
war fort –
ersetzt durch eine glatte Glasfassade,
die kalt und fremd
im fahlen Licht glänzte.
Früher rannte ich barfuß über den Hof,
wo ein knorriger Apfelbaum Schatten spendete,
und meine Schwester baute mit mir
Hütten aus alten Decken,
während der Duft von Mutters frisch gebackenem Brot
aus der Küche zog.
Abends saß die Familie mit der Großmutter zusammen,
Vater las mit warmer Stimme Geschichten vor,
die Tischlampe tauchte den Raum
in ein goldenes Licht,
und die Welt fühlte sich sicher an,
wie ein Nest aus Lachen
und kleinen Geheimnissen.
In der Jugend wurden die Räume enger,
die Gespräche schärfer und politischer,
doch das Haus blieb mein Anker,
seine Wände bewahrten die Spuren
meiner Träume und Ängste.
Dort, in meinem Zimmer,
erlebte ich meine erste Liebschaft –
ein Nachbarsmädchen mit zerzaustem blondem Haar,
dessen Lächeln mein Herz schneller schlagen ließ,
wenn wir uns heimlich im Hof trafen
und unter dem Apfelbaum flüsterten.
Der Liebeskummer kam,
als sie wegzog, ohne Abschied,
und ich nächtelang an die Decke starrte,
die Stille des Hauses schwerer als je zuvor.
Dann kam die Armeezeit,
ich war fort
und erhielt irgendwann die Nachricht,
dass das Haus gesprengt wird.
Man braucht den Platz für etwas Neues.
Ich bekam eine eigene Wohnung
ein paar Straßen weiter.
Und heute steht ein gesichtsloser Neubau
an der Stelle,
wo ich einst meine Kindheit verbrachte.
Doch in manchen Träumen
kehre ich zurück,
öffne die knarzende Tür,
spüre den kühlen Griff
und sehe die Zimmer,
gefüllt mit Echos von Kinderlachen,
dem Klirren von Geschirr
und dem Pochen meines jungen Herzens.
Ich setze mich ans Fenster,
blicke in den Hof,
wo der Apfelbaum noch steht,
und für einen Moment
lebt die Vergangenheit wieder,
bevor der Regen mich
in die kalte Gegenwart zurückspült.