Sehen
Messerseele
Ich kenne ihn zu gut.
Den Mann, der neben mir liegt,
wenn die Nacht still wird
und das Licht der Straßenlaterne
durch die Jalousien fällt
wie schmale, kalte Finger auf unserer Haut.
Den, der mir zärtlich über den Rücken streicht,
während seine Finger schon wissen,
wo die scharfen Klingen liegen.
In der Schublade, gleich neben dem Bett,
ordentlich sortiert wie Besteck für ein festliches Essen:
das kleine Schälmesser,
das Brotmesser mit dem Wellenschliff,
das japanische Santoku,
das ich ihm zum Geburtstag geschenkt habe,
weil er sagte, er liebe präzise Schnitte.
Er ist kein Monster.
Tagsüber bringt er mir Kaffee ans Bett,
lacht über meine dummen Witze,
küsst mich, als wäre ich das Kostbarste auf der Welt.
Aber nachts,
wenn ich daliege und so tue, als würde ich schlafen,
höre ich ihn atmen.
Tief, gleichmäßig, fast meditativ.
Dann dreht er sich weg,
und ich weiß:
Er st44ellt sich vor, wie es wäre.
Wie die Klinge durch Haut gleitet,
erst zögernd,
dann mit diesem widerlich sanften Widerstand
von Fett und Muskel.
Wie er Muster schnitzt,
vielleicht ein Herz,
vielleicht nur Linien,
die sich kreuzen wie ein Gitter
auf einem Schachbrett aus Fleisch.
Ich habe ihn einmal dabei erwischt,
wie er mit dem Daumen über die Schneide fuhr
und lächelte,
als würde das Metall ihm ein Geheimnis zuflüstern.
„Scharf genug?“, fragte ich.
„Für alles“, sagte er,
ohne mich anzusehen.
Menschen, die ich liebe, könnten zerstückelt werden.
Meine Schwester, die immer noch glaubt, er sei der perfekte Schwiegersohn.
Meine beste Freundin, die ihn „den Sanften“ nennt.
Meine Mutter, die ihm selbstgekochte Marmelade mitbringt.
Er könnte sie alle an den Küchentisch setzen,
mit einem Lächeln, das nichts verrät,
und dann langsam, ganz langsam
das Messer ansetzen.
Erst ein kleiner Schnitt,
nur um zu sehen, wie sie reagieren.
Ob sie schreien
oder still bleiben aus purer Fassungslosigkeit.
Ob das Blut warm ist, wie er es sich vorstellt.
Ich weiß, dass er zusehen würde.
Seelenruhig.
Die Beine übereinandergeschlagen,
vielleicht ein Glas Rotwein in der Hand,
während das Leben aus ihnen herausläuft
wie aus einem umgekippten Eimer.
Er würde nicht hastig sein.
Er hasst Hast.
Alles muss seine Ordnung haben, seine Ästhetik.
Ein sauberer Schnitt ist ein Liebesbrief,
sagt er manchmal, wenn er betrunken ist
und glaubt, ich schliefe schon.
Und ich?
Ich liege wach daneben
und stelle mir vor,
wie ich das Messer nehme, bevor er es tut.
Wie ich es ihm zwischen die Rippen schiebe,
ganz langsam,
damit er spürt,
wie es ist,
wenn jemand, den man liebt,
einem die Kontrolle nimmt.
Damit er endlich versteht,
dass Liebe und Mord
manchmal nur eine Handbreit voneinander entfernt sind.
Aber ich tue es nicht.
Noch nicht.
Denn ich kenne ihn zu gut.
Und vielleicht, nur vielleicht,
gefällt mir der Gedanke,
dass er es sich auch mit mir vorstellt.