Sehen

Mr. Babyface

Charles Haiku

Sechsundzwanzig, Babyface,
unschuldige Augen,
als könnte er keiner Fliege was zuleide tun.

Und genau das ist die tödliche Falle.

Während die grau melierten Herren im Raum
mit ihren teuren Uhren und den ernsten Stirnfalten
seriös daherreden,
hat dieser Milchbubi
schon mehr Fotzen flachgelegt
als die gesamte Tischrunde
in ihren besten Jahren zusammen.

Er lächelt schüchtern,
bestellt ein Wasser ohne Kohlensäure
und die Frauen schmelzen.

Sie denken:
„Ach, der ist ja noch so jung, so süß,
den muss man beschützen.“

Fünf Minuten später
beschützen sie seinen Schwanz mit ihrem Rachen,
weil sie glauben,
sie wären die Erste, die ihn „einführt“.

Die Erste?
Lächerlich.

Der Junge führt seit der Pubertät
ein geheimes Punktebuch.
Dreitausendachthundert Einträge,
handschriftlich,
mit Sternchen für besonders enge,
besonders lautstarke,
besonders verheiratete Exemplare.

Die Älteren starren neidisch in ihre Whiskys.

Sie haben Häuser abbezahlt,
Karrieren gemeistert,
aber ihre besten Jahre damit verbracht,
„seriös“ zu wirken.

Seriös heißt:
nicht zugreifen, wenn die Praktikantin sich bückt.
Seriös heißt:
höflich nicken, wenn die Nachbarin im Aufzug fragt,
ob man mal den Müll runterträgt.
Seriös heißt vor allem:
abends allein einschlafen,
weil man ja „verantwortungsvoll“ ist.

Und während sie verantwortungsvoll onanieren,
liegt der Sechsundzwanziger gerade
mit eben jener Nachbarin im Bett,
die ihm erzählt,
ihr Mann verstehe sie nicht.

Versteht sie auch keiner –
außer sein harmloses Babyface,
das sie jetzt hemmungslos reitet,
als gäb’s kein Morgen.

Die Reifen glauben, Erfahrung zählt.

Dabei zählt nur,
dass man aussieht,
als hätte man noch nie eine Brust angefasst –
und dann zuschlägt wie ein Profi.

Die Frauen wollen das Verbotene,
das Frische, das scheinbar Unberührte.

Und er gibt es ihnen.
Hart. Kompromisslos. Ohne Reue.

Am Ende des Abends
gehen die seriösen Herren nach Hause
zu ihren kalten Betten
und ihren warmen Erinnerungen an die Achtziger.

Der Junge nimmt die nächste mit,
die gerade noch mit einem der Grauen geflirtet hat.

Sie denkt, sie rettet ihn vor der bösen Welt.
Er denkt: Nummer dreitausendachthunderteins.

Und lächelt sein Babyface-Lächeln.

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