Sehen

neulich im Café

Luiz Goldberg

Da sitzt sie.
Zwei Tische weiter,
genau in meiner Blickachse,
als hätte das Schicksal den Stuhl persönlich hingestellt.

Sonne fällt durch die Scheibe,
legt sich auf ihr Schlüsselbein
und malt dort ein kleines, goldenes Dreieck,
das sich bei jedem Atemzug bewegt.

Ich starre hin,
als wäre das Dreieck ein geheimes Morsezeichen
nur für mich.

Sie trinkt Cappuccino,
langsam,
fast andächtig,
und jedes Mal, wenn sie die Tasse absetzt,
bleibt ein winziger Milchschaumrest
an ihrer Unterlippe hängen.

Sie leckt ihn weg.
Einmal.
Zweimal.

Ich spüre, wie mein Puls in die Hose wandert.

Unsere Blicke treffen sich.
Nicht zufällig.

Sie hält meinen eine Sekunde länger fest als nötig,
lächelt ganz leicht,
so als wüsste sie genau,
dass ich gerade überlege,
wie sich diese Lippe anfühlen würde,
wenn sie statt Milchschaum etwas ganz anderes von mir wegwischt.

Ich lächle zurück.
Ein bisschen dümmlich wahrscheinlich.
Männer lächeln immer ein bisschen dümmlich,
wenn das Blut nach unten abwandert
und das Gehirn auf Sparflamme schaltet.

Sie schlägt die Beine übereinander.
Das Kleid rutscht zwei Zentimeter höher.
Nicht viel.
Gerade genug,
dass ich die feine Linie sehe,
wo die Strümpfe enden
und die nackte Haut beginnt.

Ich stelle mir vor,
wie ich später genau dort meine Zunge entlangfahren würde,
ganz langsam,
bis sie leise stöhnt
und das Café um uns herum einfach verschwindet.

Der Gedanke ist so klar,
dass ich fast die Hand ausstrecke,
als könnte ich sie schon berühren.

Sie weiß es.
Natürlich weiß sie es.
Frauen wissen immer,
wenn ein Mann gerade mit den Augen an ihnen vögelt.

Sie senkt den Blick,
aber nicht schüchtern,
eher so, als wollte sie sagen:
„Nur zu, schau ruhig, ich genieße das auch.“

Dann beißt sie sich auf die Unterlippe.
Ganz kurz.
Ein winziger Moment,
der mich fast vom Stuhl kippen lässt.

Ich sollte hingehen.
Einfach aufstehen,
zwei Tische überwinden,
„Entschuldigung, ich musste Sie einfach ansprechen“ sagen
und schauen, was passiert.

Stattdessen sitze ich da wie festgeklebt,
trinke meinen mittlerweile kalten Espresso
und rede mir ein,
dass ich ja ohnehin vergeben bin,
dass sie sicher vergeben ist,
dass das alles nur Fantasie bleibt.
Sicherer.
Harmloser.
Feige.

Sie zahlt.
Steht auf.
Das Kleid fällt wieder genau richtig.

Sie wirft mir einen letzten Blick zu,
diesmal länger,
fast ein bisschen enttäuscht,
dreht sich um
und geht.

Ihr Parfüm bleibt noch einen Moment in der Luft hängen
wie ein Versprechen, das nie eingelöst wird.

Draußen auf der Straße fluche ich leise vor mich hin.
Warum zur Hölle habe ich nichts gesagt?

In meinem Kopf läuft schon der Film ab:
Wie wir zusammen die Toilette des Cafés benutzen,
sie auf dem Waschbecken,
ich hinter ihr,
ihre Hände gegen den Spiegel gepresst,
während sie meinen Namen stöhnt,
den sie noch gar nicht kennt.

Wie wir danach lachend rausgehen,
als wäre nichts gewesen,
und der Barista uns wissend angrinst.

Stattdessen stehe ich jetzt vor meinem Fahrrad,
mit einem Ständer in der Hose
und einem Ständer im Kopf,
der sich anfühlt wie eine verpasste Fahrkarte
in die pure, schweißnasse, hemmungslose Lust.

Nächstes Mal, schwöre ich mir.
Nächstes Mal spreche ich sie an.
Oder auch nicht.
Wahrscheinlich nicht.

Aber der Gedanke an das, was hätte sein können,
der reicht schon für die nächste Dusche zu Hause.
Ausgiebig.
Mit geschlossenen Augen.
Und ihrem imaginären Stöhnen in Full HD.

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