Sehen
Ostsee-Strandleben
Der Ostseestrand im Hochsommer –
ein Ort, an dem die deutsche Seele
ihre letzte Hemmung ablegt
und sich der Welt in voller Pracht präsentiert.
Der Sand ist heiß, klebrig,
voll mit Kippen, zerfledderten Tempo-Taschentüchern
und den Überresten von gestern Abend,
als irgendwer noch dachte,
hier würde gleich die große Liebe stattfinden.
Stattdessen liegt jetzt nur noch
ein benutztes Kondom neben einer leeren Beck’s-Flasche
und glänzt wie ein Mahnmal verpasster Gelegenheiten in der Sonne.
Weiter vorn hat sich ein Paar im besten Rentenalter postiert.
Er, ein ehemaliger Sparkassenfilialleiter aus Neumünster,
steht breitbeinig da,
als wollte er den Strand persönlich erobern.
Seine Hoden baumeln wie zwei überreife Pflaumen
in einem viel zu kleinen Netz,
schwingen bei jedem Schritt synchron mit dem Bauch,
der sich über den Gürtelrand der unsichtbaren Hose wölbt.
Sie, seine treusorgende Ehefrau seit 42 Jahren,
hat Brüste, die einmal stolz waren –
irgendwann in den Siebzigern,
als Disco noch Zukunftsmusik war.
Heute erinnern sie an zwei leere Luftballons
nach der Silvesterparty:
lang, traurig und mit einem leichten Gelbstich.
Sie sitzt auf einem bunten Handtuch,
cremt sich die Oberschenkel ein
und schaut ihm beim Federballspielen zu.
Jedes Mal, wenn er springt,
klatscht es leise zwischen seinen Beinen.
Man möchte Mitleid haben,
aber dann fällt einem ein,
dass die beiden das hier freiwillig machen.
Nackt. Seit Jahrzehnten. Jedes Jahr wieder.
Ein Stück weiter planschen Kinder im flachen Wasser.
Ihre Eltern brüllen
„Nicht so weit raus!“
und „Pass auf die Qualle auf!“,
während sie selbst mit dem Handy Fotos machen,
die später bei Facebook landen werden –
natürlich mit dem Hashtag
#familienglück und #ostseeurlaub.
Ein kleiner Junge baut eine Sandburg,
die aussieht wie ein Haufen,
den der Hund hinterlassen hat.
Seine Schwester kippt ihm einen Eimer Wasser über den Kopf.
Geschrei. Tränen.
Die Mutter kommt angerannt,
in einem Bikini, der zwei Nummern zu klein ist
und der Schwerkraft ein letztes Mal die Stirn bieten will.
Am Imbissstand steht ein Typ Ende dreißig,
Sonnenbrand Stufe Hummer,
und flucht laut,
weil seine Currywurst in den Sand gefallen ist.
„Verdammte Scheiße, das war die mit extra scharf!“
Er hebt sie auf, pustet dreimal drauf
und beißt hinein.
Fünf-Sekunden-Regel, deutsche Ausgabe.
Neben ihm lacht eine Gruppe Teenager,
die sich gerade mit billigem Wodka-Energy aus der Dose betrinken
und schon überlegen,
wer heute Abend wen auf der Strandparty abschleppt.
Die Mädchen tragen Strings,
die mehr zeigen als verbergen,
die Jungs haben Frisuren,
die aussehen, als hätten sie sich mit dem Rasenmäher selbst geschnitten.
In der Ferne planscht ein älterer Herr
mit Taucherbrille und Schnorchel im knietiefen Wasser
und sucht angeblich Muscheln.
In Wirklichkeit sucht er wahrscheinlich
den Sinn des Lebens
oder wenigstens einen Grund,
warum er sich das hier noch antut.
Seine Frau liegt auf dem Bauch, BH auf,
und liest „Brigitte Wir“.
Zwischendurch dreht sie sich um
und winkt ihm zu.
Er winkt zurück.
Beide lächeln.
Es ist diese Art von Lächeln,
das sagt:
Wir haben alles überstanden,
sogar uns selbst.
Und irgendwo dazwischen liege ich,
höre das Geschrei der Möwen,
das Plätschern der Wellen
und das leise Schmatzen,
wenn wieder jemand auf ein Kondom tritt.
Der Strand ist voll, laut, hässlich
und wunderbar zugleich.
Hier zeigt Deutschland, was es wirklich kann:
sich gehen lassen, ohne sich zu verlieren.
Hier ist jeder nackt –
manche mehr, manche weniger –
und irgendwie gehören alle dazu.
Sogar die mit den langen Hoden.