Sehen

Schock in der Schule

Charles Haiku

Elternabend in der 9b.

Der Vater – nennen wir ihn Herrn Müller,
48, leichte Plauze, schweres Herz –
sitzt auf einem viel zu kleinen Stuhl
und wartet auf Frau Dr. Klein,
die neue Klassenlehrerin seines Sohnes Tim.

Tim ist 15, hormongesteuert
und seit Wochen auffallend lernwillig.
Mathe? Kein Problem.
Bio? Lieblingsthema.
Sogar Hausaufgaben macht er freiwillig.
Verdächtig.

Frau Dr. Klein betritt den Raum.
Ende 30, Brille, streng hochgesteckter Dutt,
Bluse bis oben zugeknöpft.
Seriös. Kompetent.
Und verdammt gut gebaut.

Herr Müller schluckt.
Tim neben ihm wird rot
wie eine Ampel im Bordellviertel.

Zu Hause dann der Zufall.
Tim hat den Laptop offen gelassen.

Vater will nur schnell die Noten raussuchen.

Stattdessen:
ein Browser-Tab mit dem Titel
„Klassische Erziehung – Die strenge Lehrerin gibt Nachhilfe in Anatomie“.

Darstellerin: „Candy College“.
Jahrgang 2008–2012.

Und Candy College ist –
man ahnt es –
niemand anderes als
Frau Dr. phil. Klein,
die heute noch Tims Aufsatz über Goethes „Faust“
mit einem satten „Sehr gut +“ belohnt hat.

Der Schock sitzt tiefer
als ein schlecht gezogener Weisheitszahn.

Der eigene Sohn
wichst sich seit Monaten auf die Lehrerin einen,
die früher für 19,99 Euro pro Film
bewerteten Dreier die Studiengebühren abbezahlte.

Und zwar nicht schlecht –
die Frau hatte Talent, Präsenz,
Notendurchschnitt 1,0 in „Praktischer Sexualkunde“.

Was also tun?

Variante A – der klassische deutsche Vater:
Elternsprechtag stürmen,
mit dem Zeigefinger wedeln
und brüllen:
„Sie perverses Luder,
wie können Sie meinem unschuldigen Jungen die Unschuld rauben!“

Ergebnis:
Tim hasst Papa bis zur Volljährigkeit,
Frau Klein verklagt wegen übler Nachrede,
und Tim zieht mit 18 zu ihr
und nennt sie fortan „Mama Candy“.

Variante B – der aufgeklärte Vater:
Cool bleiben, ein Bier aufmachen
und denken: Respekt.
Die Frau hat sich ihren Doktor selbst erarbeitet –
mit Einsatz, Kreativität und beeindruckender Flexibilität.
Heutzutage studieren die Kids doch eh nur BWL auf Pump.

Variante C – der pragmatische Vater:
Er setzt sich mit Tim hin, Mann zu Mann,
und sagt:
„Junge, ich versteh dich.
Die Frau ist Weltklasse.
Aber pass auf,
dass du in Bio nicht plötzlich ’ne Eins mit Sternchen kriegst,
nur weil du ihre alten Filme auswendig kannst.
Und wehe, du bringst sie zum nächsten Elternabend mit –
dann muss ich mich nämlich auch benehmen.“

Am Ende bleibt nur eine Erkenntnis:

Früher haben Väter ihre Söhne
vor Zigaretten, Alkohol und bösen Mädchen gewarnt.

Heute müssen sie sie vor Lehrerinnen warnen,
die früher besser verdient haben
als der Schuldirektor heute.

Die Zeiten ändern sich.
Die Morgenlatte des Sohnemanns offenbar nicht.

Und wenn Tim dann irgendwann fragt:
„Papa, wie war das eigentlich früher mit Pornos?“ –

dann lächelt der Vater milde
und antwortet:
„Früher, mein Junge,
da musste man noch in den Videoladen gehen
und hoffen, dass einen niemand erkennt.
Heute lädt die Lehrerin selbst hoch.
Fortschritt nennt man das.“

Bleiben Sie also ruhig,
moralisch flexibel
und vor allem:
grüßen Sie mir Frau Dr. Klein,
wenn Sie sie das nächste Mal sehen.

Sagen Sie einfach:
„Guten Tag, Frau Doktor – äh Candy
Sie machen das wirklich... klasse.“

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