Sehen

streng verboten & Reue

Luiz Goldberg

Manchmal steht das Leben
wie ein riesiger gelber Baustellen-Container
quer vor der Nase.

Die Warnschilder sind nicht zu übersehen:
„Durchfahrt verboten“,
„Lebensgefahr“,
„Hier geht’s steil bergab“.

Man sieht sie,
man liest sie,
man nickt sogar verständnisvoll,
und biegt trotzdem ab.

Weil da drüben etwas glänzt.
Weil ein leises, dummes Stimmchen flüstert:
„Nur mal kurz gucken kann ja nicht schaden.“

So war es auch bei mir.

Der ausgetretene Hauptweg war solide,
langweilig vielleicht, aber solide.
Er roch nach frisch gemähtem Rasen,
nach Sonntagsbraten
und geregelten Rentenbeiträgen.

Und dann kam dieser schmale, verwilderte Pfad,
der sich zwischen Brombeerranken hindurchschlängelte.

Er roch nach verbotener Butter,
nach Margarine, die man eigentlich nur aufs Brot streicht,
aber plötzlich in ganz anderen Kontexten vorstellte.

Ein Tabu, das nicht drohte, sondern lockte,
frech, fettig, verführerisch.

Ich dachte:
Ein kleiner Umweg.
Ein Experiment.
Ein Beweis, dass ich noch lebe,
dass ich noch wählen kann.

Ich dachte wirklich,
ich wäre der Herr der Abzweigung.

Jetzt stehe ich in einer Sackgasse,
deren Wände aus Reue gebaut sind.

Der Boden ist rutschig
von den Resten meiner eigenen Großspurigkeit.

Die Luft riecht nach abgestandenem Bedauern
und kaltem Fett.

Die Brombeeren haben sich in meine Jacke gekrallt
und lassen nicht mehr los.

Und irgendwo hinten, ganz leise,
höre ich das Schicksal mit einem riesigen Schild wedeln:
„Hab ich’s nicht gesagt?“

Ich fluche nicht laut.
Das wäre zu billig.

Ich fluche leise, in mich hinein,
über jede einzelne Sekunde,
in der ich geglaubt habe,
die Warnschilder wären nur für die anderen aufgestellt worden.

Über jede gierige Bewegung,
mit der ich das Verbotene angefasst habe,
als wäre es ein harmloser Sonntagsbrötchenbelag
und nicht der Beginn vom Ende.

Späte Einsicht ist kein dramatischer Blitz.

Sie ist ein langsames, klebriges Erwachen
in einer Ecke, aus der es kein Zurück gibt,
nur noch ein beschämtes Warten,
bis jemand kommt
und einem hilft,
die Brombeeren aus dem Stoff zu pulen.

Falls jemand kommt.
Falls man überhaupt noch gerufen wird.

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