Sehen
Tägliche Entscheidungskämpfe
Jeden Tag dasselbe Theater,
kaum dass der Wecker geklingelt hat.
Der Spiegel glotzt mich an wie ein alter Feind,
und die erste Frage knallt rein:
Soll ich mich rasieren
oder den Dreitagebart stehen lassen,
der mich angeblich verwegener macht?
Als ob drei Millimeter Stoppeln darüber entscheiden,
ob heute jemand meine Existenz bemerkt.
Dann die Brotfrage.
Käse oder Schinken?
Gouda, der immer gleich schmeckt wie Pappe mit Loch,
oder dieser billige Kochschinken,
der sich anfühlt,
als hätte er schon mal ein anderes Leben als Turnbeutel gehabt.
Manchmal nehme ich beide,
aus purer Entscheidungsmüdigkeit,
und schiebe mir das Doppelbrot rein
wie ein Hamster, der sich auf den Winter vorbereitet.
Im Radio läuft irgendein Song,
den ich gestern noch gehasst habe
und heute schon mitsumme.
Soll ich Musik aufdrehen
oder die Stille ertragen,
in der meine Gedanken laut werden?
Die Stille gewinnt meistens,
weil ich dann wenigstens so tue,
als wäre ich tiefgründig.
Der Schal.
Himmel, der Schal!
Grau zu Blau oder Blau zu Grau?
Als ob irgendjemand in der U-Bahn denkt:
„Boah, der Typ hat den perfekten Schalton gewählt,
den würde ich jetzt sofort flachlegen.“
Aber ich stehe da wie ein Idiot
und prüfe Kombinationen,
als hinge mein Leben davon ab.
Und dann die Mutter aller Fragen,
die seit Wochen wie ein bohrender Zahn schmerzt:
Soll ich sie anrufen?
Sie.
Diese Frau, die mir vor drei Monaten in der Kneipe gegenübersaß,
lachte, als ich einen dummen Witz über kaputte Regenschirme machte,
und dann einfach verschwand,
ohne Nummer, ohne Namen,
nur mit diesem Blick, der sagte:
„Wenn du dich traust, findest du mich schon.“
Seitdem ist jeder Tag ein kleiner Krieg.
Rasieren oder nicht – lächerlich.
Käse oder Schinken – egal.
Schal – scheißegal.
Aber diese eine Frage
frisst sich durch alles durch wie Säure.
Anrufen hieße,
endlich die Kontrolle abzugeben,
mich lächerlich zu machen,
vielleicht abgewiesen zu werden.
Nicht anrufen heißt,
weiter in diesem Trott zu verrotten,
zwischen Brotbelag und Schalwahl,
ein Mann, der den Mut nicht hat,
die einzige Entscheidung zu treffen,
die wirklich zählt.
Jeden Tag dasselbe.
Und jeden Tag verliere ich ein Stück mehr von mir,
weil ich immer noch nicht weiß,
ob ich den Hörer in die Hand nehme
oder weiter so tue,
als wäre das Leben eine Frage
von Schinken oder Käse.
Aber morgen,
morgen vielleicht,
wähle ich ihre Nummer.
Oder ich lasse den Bart stehen,
nehme beide Beläge
und den falschen Schal.
Und bleibe der Feigling, der ich bin.
Sie lachen?
Ich auch.
Irgendwann.
Vielleicht.