Sehen
Um 8 Uhr Im Café um die Ecke
Im Café um die Ecke,
wo der alte Espressoautomat noch röhrt wie ein betrunkener Tenor,
saß ich um acht Uhr morgens über meinem üblichen Käsebrötchen
und versuchte, die Welt zu ignorieren.
Draußen regnete es Bindfäden,
drinnen roch es nach nassem Hund und frischem Brot.
Plötzlich taumelte sie herein –
eine Französin, offensichtlich noch auf der Zielgeraden einer langen Nacht.
Schwarze Mascara-Schlieren,
Lippenstift bis zum Ohr,
und ein Atem, der eine ganze Brauerei plattmachen könnte.
Sie steuerte direkt auf meinen Tisch zu,
als hätte sie dort einen Leuchtturm entdeckt.
Ohne ein Wort
packte sie mein Gesicht mit beiden Händen,
die nach Zigaretten und billigem Rotwein rochen,
und schob mir ihre Zunge in den Mund,
als wollte sie prüfen, ob ich noch lebte.
Es war kein Kuss,
es war eine Razzia.
Ihre Zunge schmeckte nach abgestandenem Bier,
nach verlorenen Pokerrunden
und nach dem letzten Typen,
der wahrscheinlich gerade irgendwo mit dem Gesicht im Klo lag.
Ich hingegen hatte gerade erst in mein Brötchen gebissen.
Frischkäse, Schnittlauch, ein Hauch Butter –
das volle Programm.
Unsere Geschmäcker prallten aufeinander
wie zwei betrunkene Boxer im Ring:
mein ordentliches Frühstück gegen ihre chaotische Nacht.
Sie stöhnte irgendwas auf Französisch,
das klang wie „Encore un peu de vie“,
und ich dachte nur:
„Lady, ich hab noch nicht mal meinen ersten Kaffee.“
Dann ließ sie plötzlich los,
wankte zwei Schritte zurück,
grinste schief
und sagte mit schwerer Zunge:
„Merci, Monsieur. Ich brauchte das.“
Drehte sich um
und verschwand wieder in den Regen,
als wäre nichts gewesen.
Ich saß da,
Mund voller Brötchen und fremder Zunge,
und wusste:
Der Tag hatte gerade seinen Ton angegeben.
Irgendwo zwischen absurd und geil.
Ich bestellte mir einen doppelten Espresso,
wischte mir den Mund ab
und dachte:
Manchmal fängt das Leben eben nicht mit einem Lächeln an,
sondern mit einer besoffenen Französin,
die dir einfach zeigt,
dass die Grenze zwischen Morgen und Nacht
nur eine Frage der Perspektive ist.
Und irgendwo da draußen
sucht sie wahrscheinlich immer noch das Ende ihrer Nacht –
während ich hier sitze
und schon mitten im Tag stecke.
Mit dem Geschmack von Bier und Butter auf der Zunge.
Prost.