Sehen
Vergeben. Absolution. Erlösung.
Du suchst sie
wie ein Verdurstender das letzte Glas Wasser.
Du kniest nieder,
faltest die Hände,
flüsterst lateinische Formeln
oder moderne Selbstvorwürfe,
hauptsächlich aber wartest du
auf dieses eine Wort,
das alles auslöschen soll:
„Vergeben. Absolution. Erlösung.“
Doch sie kommt nicht.
Nicht, weil ein strenger Gott oben sitzt
und den Daumen senkt.
Sondern weil es nichts zu vergeben gibt.
Dein erstes Stöhnen,
als ein Finger dich dort berührte,
wo vorher noch nie jemand gewesen war.
Dein erschrockenes Luftschnappen,
das sofort in ein tiefes, tierisches Seufzen überging.
Die Sekunde,
in der du merktest:
Das hier ist kein Verrat an irgendwas Männlichem;
das ist schlicht und ergreifend Lust,
reine, unbändige, egoistische Lust,
die dir niemand verbieten kann,
weil sie schon immer zu dir gehörte.
Du hast keine Schuld auf dich geladen.
Du hast nur endlich aufgehört,
dich für etwas zu schämen,
das von Anfang an unschuldig war.
Die Kirche, die Gesellschaft,
die Umkleidekabinenwitze,
die Väter, die „Junge, ein Mann lässt sich nicht…“;
sie alle haben dir eine Schuld eingeredet,
die nie existierte.
Wie man einem Kind erzählt,
der Klapperstorch bringe die Babys,
obwohl das Kind längst weiß,
woher sie wirklich kommen.
Deshalb gibt es auch keine Erlösung.
Erlösung setzt Gefangenschaft voraus.
Du warst aber nie gefangen;
nur eingeschüchtert.
In dem Moment,
in dem du deinen eigenen Körper als das annimmst –
jeden Zentimeter, jede Öffnung, jede Reaktion –
bricht das ganze Schuldtheater zusammen.
Kein Priester muss dich lossprechen.
Keine Partnerin muss dir „erlauben“.
Kein innerer Richter muss Gnade walten lassen.
Du bist frei geboren.
Und plötzlich verstehst du:
Das Stöhnen gestern Nacht
war kein Sündenfall.
Es war das erste wahrhaftige Amen deines Lebens.
Du brauchst keine Erlösung.
Du bist bereits angekommen.