Sehen
Was ist EROTISCH
Wir saßen also wieder einmal
bis tief in die Nacht zusammen,
drei alte Freunde,
eine Flasche Rotwein nach der anderen leer,
und versuchten,
die Welt der Erotik zu ergründen.
Der eine schwor auf zarte Streicheleinheiten,
Kerzenlicht
und geflüsterte Liebeserklärungen,
der zweite lachte nur
und sagte,
Erotik beginne erst,
wenn die Handschellen klicken
und die Peitsche pfeift.
Der Dritte, der stillste von uns,
gestand irgendwann leise,
dass ihn nichts so sehr erregt
wie der Gedanke,
seiner Frau beim Frühstück
ganz unauffällig einen Klacks Butter auf den Finger zu nehmen
und ihn dann,
während sie noch über die Marmelade nachdenkt,
langsam in ihren Po zu schieben.
Wir starrten ihn an.
Dann brachen wir in Gelächter aus.
Der Sadist nannte ihn einen Romantiker mit Fetisch,
der Romantiker nannte ihn einen Perversen mit Küchenphobie.
Ich selbst sagte nichts,
weil ich gerade daran dachte,
wie meine Freundin neulich beim Sex plötzlich „Härter!“ rief,
und ich nicht wusste,
ob sie die Stöße meinte
oder den Käse auf dem Nachbarteller.
Wir stritten weiter.
Ist es erotisch,
wenn sie dir die Eier mit eiskalter Sahne bestreicht
und dann genüsslich ableckt?
Oder wenn er dir beim Vorspiel einen Finger in den Hintern steckt
und du vor Schreck fast die Decke herunterkommst,
aber dann merkst,
dass es sich plötzlich anfühlt,
als hätte jemand einen Schalter umgelegt
und dein ganzes Becken in Flammen gesetzt?
Ist es erotisch,
wenn sie dir beim Blasen in die Augen schaut,
oder wenn sie dir dabei auf den Sack haut,
dass es klatscht wie ein nasses Handtuch?
Wir kamen zu keinem Ergebnis.
Der Wein wurde schwerer,
die Stimmen lauter,
die Gesten wilder.
Irgendwann lagen wir uns in den Armen und lachten,
weil wir merkten:
Erotik ist keine Wissenschaft,
kein Dogma,
keine Gebrauchsanweisung.
Erotik ist das,
was dir den Atem raubt,
wenn du es am wenigsten erwartest.
Für den einen ist es ein Seidentuch über den Augen,
für den anderen ein Daumen im Arsch,
für den Dritten vielleicht einfach nur der Gedanke,
dass seine Frau morgen früh wieder diese eine Unterhose anzieht,
die hinten ein kleines Loch hat.
Am Ende hoben wir die Gläser
und prosteten uns zu.
Auf die Peitsche.
Auf die Butter.
Auf den Finger, den Daumen, den Klacks Sahne.
Auf alles, was uns heiß macht,
auch wenn der Nachbar es nie verstehen wird.
Denn Erotik ist keine Frage der Moral,
keine Frage der Orientierung,
keine Frage der Technik.
Sie ist eine Frage des Geschmacks.
Und Geschmack, liebe Freunde,
lässt sich weder beweisen noch bekehren.
Man hat ihn.
Oder eben nicht.
Prost.
Auf euren Geschmack.
Möge er euch stets kommen lassen,
wie es euch gefällt.