Sehen

welche Erkenntnis

Ricardo Möbius

Der Akt der Liebe ist der große Demaskierer,
alt wie die Menschheit,
doch ein Schock für jede Gesellschaft,
die sich in Rollen verbarrikadiert.

Der Dichter,
der in feurigen Versen von Sehnsucht schwärmt,
liegt keuchend da,
Metaphern vergessen,
nur rohes Verlangen zählt.

Der Denker,
Erbauer abstrakter Systeme,
zerbricht an der Simplizität des Körpers,
Logik löst sich in animalischem Rhythmus auf.

Der Fußballspieler,
Held der Massen,
wird zum bloßen Spieler
in einem uralten Duell,
Kraft dient nicht dem Tor,
sondern der Vereinigung.

Der Richter,
Verkünder von Gesetzen,
unterwirft sich der Gesetzmäßigkeit der Lust,
ohne Appell, ohne Berufung.

Die Journalistin,
Aufdeckerin von Skandalen,
deckt sich selbst auf,
Worte reduzieren sich auf Stöhnen und Flüstern.

Die Designerin,
Schöpferin von Formen,
lässt ihre eigene Form
von fremden Händen formen,
perfekte Kurven zu chaotischer Schönheit.

Die Lehrerin,
Vermittlerin von Wissen,
lernt die Lektion der Hingabe,
Autorität schmilzt dahin.

Die Studentin,
voll Ideale und Zukunftsträume,
taucht in die Gegenwart des Fleisches,
unbeschwert und wild.

Der Arbeitslose,
geplagt von Sorgen,
findet Trost in der Gleichheit der Berührung,
Frustration zu purer Energie.

Die Verkäuferin,
Verkäuferin von Höflichkeit,
kauft sich Freiheit,
Maske des Services fällt,
wird Königin der Nacht.

In diesem intimen Tanz
überwiegen Gemeinsamkeiten
die Unterschiede.

Alle atmen denselben schweren Duft der Erregung,
spüren dieselbe Hitze, die von innen lodert,
teilen dieselben Zuckungen der Ekstase.

Der Intellektuelle stöhnt nicht eloquenter
als der Handwerker,
die Reiche nicht leidenschaftlicher als die Arme.

Beruf, Status, Bildung –
Schall und Rauch,
wenn der Körper übernimmt.

Hier keine Hierarchien, keine Vorurteile,
nur die universelle Sprache der Begierde:
Haut an Haut,
Herzschlag an Herzschlag,
Höhepunkt um Höhepunkt.

Die Gesellschaft baut Mauern aus Titeln und Rollen,
doch im Bett brechen sie ein wie Kartenhäuser.

Der Dichter und die Verkäuferin
verschmelzen in derselben Umarmung,
der Richter und der Arbeitslose
teilen denselben Schrei der Erlösung.

Diese Erkenntnis ist befreiend und ernüchternd zugleich.

Sie zeigt, wie illusorisch unsere Unterscheidungen sind,
wie sehr wir uns in Alltagsrollen verlieren.

Im Liebesspiel werden wir alle zu Adam und Eva,
primitiv, ehrlich, gleich.

Kein Wunder, dass Religionen und Moralisten davor warnen –
es demaskiert die Heuchelei.

Doch genau hier liegt die wahre Demokratie:
Nackt sind wir alle gleich,
verletzlich und stark,
suchend und findend.

Die Unterschiede, die uns tagsüber trennen –
Reichtum, Macht, Wissen –
verblassen vor der Gemeinsamkeit des Verlangens.

Es ist der große Gleichmacher,
der uns erinnert:
Unter der Hülle pulsiert dasselbe Leben,
dasselbe Feuer.

Und dennoch:
Sobald der Morgen dämmert
und die Kleider wieder angezogen werden,
kehren die Rollen zurück.

Der Dichter dichtet weiter,
der Richter urteilt,
die Studentin lernt.

Aber in stillen Momenten,
vielleicht bei einem Blick in den Spiegel,
blitzt die Erinnerung auf –
an jene Nacht, in der alles eins war.

Eine Lektion in Bescheidenheit,
in Menschlichkeit.

Denn ob hoch oder niedrig,
gebildet oder einfach:
Im Akt der Liebe sind wir alle nur Menschen,
hungrig nach Berührung, nach Verbindung.

Die Gemeinsamkeiten siegen,
die Unterschiede verlieren.

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