Sehen
zu dick aufgetragen
Ich saß im selben Café wie immer,
Samstagnachmittag, Sonne, Espresso,
ein bisschen Leute gucken.
Und dann kam sie.
Mit ihm.
Dem Neuen.
Dem, der aussieht wie ein Influencer
für Proteinshakes und Selbstbräune.
Sie trug dasselbe Kleid wie damals,
als sie noch bei mir war.
Nur diesmal zwei Nummern enger,
als wollte sie sagen:
„Schau her, was dir entgeht.“
Er hatte die Hemdknöpfe offen bis zum Bauchnabel,
als wäre er auf dem Weg zu einem Casting
für „Love Island – Rentner-Edition“.
Sie setzten sich genau in mein Sichtfeld.
Natürlich.
Zufall gibt’s ja nicht.
Dann ging die Show los.
Nicht leise, nicht dezent,
nein, mit voller Lautstärke
und Regieanweisung „Übertreibung bis zum Anschlag“.
Er nahm ihre Hand, küsste jeden einzelnen Finger,
als wäre es ein Relikt aus Lourdes.
„Baby, du bist mein Sauerstoff“, säuselte er.
Sie:
„Und du bist mein Herzschlag, mein Alles,
mein Universum, mein fucking Kosmos!“
(Ja, sie sagte wirklich „fucking Kosmos“. Laut. Sehr laut.)
Ich spürte, wie sich mein Magen umdrehte.
Nicht aus Eifersucht.
Eher aus purem, glühendem Fremdscham-Mitleid
für die gesamte Menschheit.
Er stand auf, ging auf die Knie,
mitten zwischen den Tischen,
und brüllte quasi:
„Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut!“
Sie warf sich ihm entgegen,
dass der Stuhl umkippte,
und dann knutschten sie,
als gäbe es einen Preis
für die meisten verschluckten Zungen in unter dreißig Sekunden.
Zwischendurch warf sie mir einen Blick zu.
Einen einzigen.
Triumphierend.
Mit hochgezogener Augenbraue,
als wollte sie sagen:
„Siehst du? SO liebt man richtig.“
Ich hob meine Tasse, prostete ihr stumm zu
und trank einen Schluck.
Bitter.
Passte.
Sie merkten nicht,
dass ringsum die Leute grinsten.
Nicht aus Rührung.
Aus purem Entsetzen.
Ein Typ am Nebentisch flüsterte seiner Freundin zu:
„Die machen das doch mit Absicht, oder?“
Die Freundin nickte nur
und hielt sich die Hand vor den Mund,
um nicht laut loszulachen.
Am Ende stand er auf,
hob sie hoch wie in einem schlechten Film,
drehte sich einmal im Kreis
(sie quietschte wieder,
diesmal schrill genug, um Glas splittern zu lassen)
und rief in die Runde:
„Das ist die Frau meines Lebens!“
Ich zahlte, stand auf
und ging an ihnen vorbei.
Ganz nah.
Sie sah mich an,
erwartete wohl irgendeine Reaktion.
Ein Zusammenzucken.
Ein trauriges Gesicht.
Irgendwas.
Ich lächelte nur mild, fast zärtlich,
und sagte leise, nur für sie hörbar:
„Gratuliere.
Du hast die Rolle der tragischen Heldin perfekt drauf.
Aber nächstes Mal vielleicht ein bisschen weniger Schminke.
Man sieht die Verzweiflung sonst zu deutlich.“
Dann ging ich.
Hinter mir hörte ich noch,
wie er fragte:
„Kennst du den?“
Und sie, mit diesem neuen, künstlichen Lachen:
„Ach, nur ein alter Bekannter. Total unwichtig.“
Ja, Schatz.
Genau so.
Manche Menschen brauchen ein Publikum,
um sich größer zu fühlen.
Ich brauche nur einen ruhigen Platz
und die Gewissheit,
dass ich nie wieder so laut lügen müsste,
um mich selbst zu ertragen.